Ein Dorf erwacht aus dem Winterschlaf
Die hell lila Blütenblätter der ersten Kuhschellen – fälschlicherweise auch als Krokusse bezeichnet, werden hin und her geweht und obwohl so zart, halten sie doch dem starken Wind stand. Sie sind die ersten Vorboten des nahenden Frühlings, wenn sich der schmelzende Schnee aus den Bergen des Waterton Lakes National Park in unzähligen Bächen und Wasserfällen ergießt. Bald recken sich im vertrockneten Gras der hügligen Prärie vereinzelt satt grüne Grashalme empor. Es dauert nicht lange, dann explodiert die Natur in einem Feuerwerk aus grünen Blättern und farbenfrohen Blüten. Mit nur 500 Quadratkilometern ist der Waterton Lakes National Park zwar einer der kleinen Nationalparks Canadas, nichtsdestotrotz hat er eine unglaubliche Pflanzenvielfalt und außerdem noch einige andere Superlative zu bieten.
1895 wurde er als vierter Nationalpark Kanadas gegründet und ist noch immer ein Geheimtipp abseits der üblichen Touristenrouten. Im äußersten Südwesten der kanadischen Provinz Alberta gelegen, bildet er gemeinsam mit dem im Süden angrenzenden Glacier National Park in Montana (USA) seit 1979 ein zusammenhängendes Biosphärenreservat. Beide Parks wurden 1932 zum ersten Internationalen Peace Park ernannt und 1995 außerdem UNESCO Weltnaturerbe.
Wo Prärie und Berge aufeinander treffen
Nirgendwo sonst ist der Übergang zwischen der Prärie und den schroffen Bergen der Rocky Mountains so unvermittelt wie hier. Bei guter Sicht ist die Bergkette schon aus 100 Kilometern Entfernung zu sehen. Die flache weite Prärie verändert sich erst kurz vor den Toren des Parks. Der Blick gleitet über sanft ansteigende Hügel, hinter denen sich direkt die bis zu 2900 Meter hohen Berge erheben. Dazwischen lässt sich das Tal erahnen, in dem der kleine Touristenort Waterton liegt. Auf beiden Seiten des Parkeingangs breiten sich Tümpel und der Maskinonge Lake aus, ein Ort der sich besonders für Vogelbeobachtung eignet. Auf einem Hügel thront das historische Prinz of Wales Hotel umgeben vom Oberen und Mittleren Waterton See. Gleich dahinter liegt der hübsche Ort Waterton eingebettet zwischen zwei Buchten am tiefsten See der kanadischen Rocky Mountains. Die umgebenden Berge erheben sich direkt vom anderen Ufer und hinter den Wohnhäusern am Ortsrand.
Zurück aus dem Winterquartier
Just zu der Zeit, zu der sich die ersten Krokusse als lila Farbtupfer zwischen vertrockneten Gräsern behaupten, kommen nicht nur Vögel, Enten, Schwäne und Kanadakraniche aus ihrem Winterquartier zurück, sondern auch eine menschliche Spezies, die „locals“, die Einheimischen, die dem Winter in den Süden entflohen waren. Dazu muss erwähnt werden, dass Waterton während des Winters fast eine Geisterstadt ist. Alle Läden, Geschäfte und Restaurants sind geschlossen, Türen und Fenster der meisten Gebäude werden mit Holzplatten vor Winterstürmen geschützt. Nur zwei Hotels bleiben ganzjährig geöffnet. Selbst der Supermarkt und die Tankstelle schließen im Oktober. Wenn dann Pats Tankstelle als erstes Geschäft Ende April wieder eröffnet, ist das für die 20 bis 40 Ganzjahresbewohner des Ortes ein Frühlingserwachen. Jetzt kann man mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen bei milden Temperaturen endlich mal wieder ein Eis am Stil, einen Schokoriegel oder einen Hot Dog kaufen oder mit Pat und seiner Frau Sue ein Schwätzchen halten.
Bären als Gärtner
Mit den wärmeren Temperaturen kommen auch die Bären aus ihren Winterquartieren auf der Suche nach frischem Futter. Die jungen Gräser und Pflanzen haben jetzt besonders viel Zucker und sind eine beliebte Nahrungsquelle. Eine besondere Leibspeise der Bären sind zum Beispiel die Zwiebeln der „Spring Beauty“, einer in Gruppen wachsenden weiß-lila blühenden Wildblume der Gattung der Tellerkräuter. Aber keine Angst, die Bären rotten dabei nicht die herrlichen Blumen aus, sondern ganz im Gegenteil. Ihr Scharren im Boden auf der Suche nach den nahrhaften Knollen wirke wie das Umgraben eines Gärtners und komme den Pflanzen sehr zu Gute, berichtet David Musto, Resource Management Officer von Parks Canada. Entlang der beiden Panoramastraßen im Park, dem Red Rock Canyon und dem Akamina Parkway, halten sich oft Schwarzbären auf und können von der Straße aus beobachtet werden.
Dickhornschafe und Maultierhirsche grasen zwischen den Häusern im Ort, angelockt von frischem Gras und den Streusalzresten an Autos und Straßen; und weil sie im Dorf sicher sind vor Berglöwen und Wölfen. Es kommt schon mal vor, dass ein Dickhornschaf beim genüsslichen Lecken des Salzes mit seinen Hörnern gegen die Tür eines Motel Zimmers klopft.
Waterton Wildblumen Festival
Trotz seiner kleinen Größe beheimatet der Waterton Lakes National Park mehr als 1000 verschiedene Pflanzen; damit übertrifft er sogar den zwölf mal größeren Banff National Park. Begünstigt wird diese Vielfalt, durch die im Park aufeinander treffenden Vegetationszonen und den Einfluss verschiedener Klimazonen. Waterton liegt an der nordamerikanischen Wasserscheide und ist vom Pazifischen Wettersystem beeinflusst, weshalb hier Pflanzen heimisch sind, die sonst nur auf der Westseite der Rockys vorkommen, wie das Bärengras. Über die Hälfte aller in Alberta heimischen Pflanzen und eine ungewöhnlich hohe Anzahl an seltenen Pflanzen, wie der Berg-Frauenschuh, wachsen im Park.
Jährlich im Juni findet das „Waterton Wildflower Festival“ statt. Über eine Woche lang werden mehr als 80 Kurse, geführte Wanderungen, Exkursionen und Veranstaltungen zum Thema Wildblumen, Pflanzen und Ökosysteme veranstaltet. Auch Foto- und Malkurse sowie Diashows und Unterhaltung sind geboten. Zu Fuß, Pferd, mit dem Fahrrad oder per Schiff auf dem Waterton Lake nähern sich die Teilnehmer der pflanzlichen Welt und entdecken deren faszinierende Details. Mit Vergrößerungsglas ausgestattet, knien dann schon mal ganze Gruppen inmitten einer Wiese über Wildrosen, Lilien und Orchideen.
Unscheue Motive
Die Wildblumen-Beobachtung bietet im Gegensatz zur Jagd auf gute Wildtiermotive einen großen Vorteil: Blumen laufen nicht davon. Sie geben dem Beobachter unendlich viel Zeit sie zu bestaunen und zu studieren, die Kamera in Position zu bringen und den richtigen Ausschnitt zu wählen oder auf das richtige Licht zu warten. Und meist sind sie, am nächsten Tag an der selben Stelle wieder zu finden.
Rosa Wildrosen und orange Waldlilien erinnern an Züchtungen, die wir gewöhnlich in Blumenhandlungen vorfinden. Hier sind sie in ihrer natürlichen Umgebung zwischen gewöhnlichem Gras zu bestaunen. Das für Waterton typische Bärengras wird bis zu eineinhalb Meter hoch und trägt am Ende seines langen Stängels einen Blütenstand aus unzähligen cremefarbenen, sternförmigen Blüten. Das Bärengras wird aber nicht, wie sein Name vermuten lassen könnte, von Bären gefressen. Seine bis zu 80 cm langen und nur 3 bis 4 mm breiten Laubblätter kennen wir ebenfalls aus dem Blumengeschäft, wo sie als dekoratives Grün angeboten werden.
Während am Cameron Lake an der Südwest Grenze des Parks auf einer Höhe von über 1600 Metern im Mai noch hohe Schneehaufen vom weichenden Winter zeugen, und der See noch von einer Eisschicht überzogen sein kann, sprießen andern Orts im Park die hübschen Glacier Lillys, eine Lilienart, und an den Espen im Tal leuchten die frischen hellgrünen Blätter. Auch die Beerensträucher fangen an zu blühen und verströmen einen herrlichen Duft.
Anfang Mai eröffnen die meisten Hotels und Geschäfte. Wer zu dieser Zeit bis Mitte Juni nach Waterton kommt, kann immer noch absolute Ruhe und relativ günstige Übernachtungspreise und trotzdem den Komfort eines kleinen Touristenortes mitten im Nationalpark genießen. Waterton bietet Wanderwege für alle Ansprüche, von kurzen Spaziergängen bis zu mehrtägigen Touren mit Übernachtungsmöglichkeiten an abgelegenen Backcounty Campingplätzen. An der Westseite des Parks führen einige Wanderwege über die Grenze ins benachbarte Britisch Columbia zum Akamina-Kishinena Provinz Park, eine Wildnis, die ansonsten nur über Schotterpisten zu erreichen ist.
Waterton Lakes National Park
Lage: 270 km südlich von Calgary, Alberta, Kanada
Größe: 500 km2
Der Ort Waterton liegt auf 1280 Metern über Null.
Höchster Berg: Mt. Blackinston, 2940 m
Hauptsaison: Mitte Juni – Mitte September
Zwischensaison: Mai, Oktober
Nebensaison: November – April
Waterton Wildflowerfestival
www.watertonwildflowers.com
15.-23. Juni 2013
Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der „Deutschen Rundschau“